29.09.2009

Schande Kritik + Trailer

Der fesselnde und immer wieder überraschende Film Schande mit John Malkovich wird vom oberflächlichen Betrachter als "Rassismus-Drama" klassifiziert, schlechtestenfalls auch noch bequem unter "Südafrika/Apartheid" abgelegt. Doch der auf dem mit dem Booker Preis ausgezeichneten Roman des Literaturnobelpreisträgers J.M. Coetzee* basierende Film ist viel genialer, als diese Klassifizierung vermuten lassen würde. Coetzee hat sich wohl zu Herzen genommen, dass heutzutage fast jeder eine Vorstellung davon hat, was Rassismus ist, doch dass das Verständnis des Sexismus, trotz der vielen offensichtlichen Parallelen in der Familie der -ismen, in großen Teilen der Weltbevölkerung immer noch eher rudimentär ist. Schande zeigt nicht nur diese Parallelen auf, sondern stellt auch noch einen lernwilligen Akademiker in den Mittelpunkt, mit dem der Zuschauer sich identifizieren und auf höchst unterhaltsame Weise eventuell mitlernen kann. Das Drehbuch für diesen sehenswerten Film stammt von Anna Maria Monticelli, Regie führte ihr Ehemann Steve Jacobs. Beide fungierten auch als Produzenten. (Hier geht's zum Buch: Schande)

Der 52-jährige Literaturprofessor David Lurie (super: John Malkovich, Der fremde Sohn), hält sich für einen gebildeten Schöngeist, der in dieser schnöden Welt als Außenseiter angesehen wird, was einer Auszeichnung gleichkommt. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn Dichter wie Lord Byron haben "Helden" erschaffen, mit denen sich Lurie identifizieren kann und deren Werke er nur zu gerne seinen Studenten vorstellt. Diese Werke sind seit jeher fester Bestandteil des Kanons, ihnen gebührt Bewunderung und Ehrfurcht, mit ihnen müssen sich auch die weiblichen Studenten wohl oder übel beschäftigen. Den Studentinnen wird vom verklärt dreinguckenden Prof auch noch abverlangt, Sympathie für den "leidenden Helden" aufzubringen. [Immer mit der vorsichtigen Formulierung "der Autor will" u. ä. Trotz Brechreizes werden während den Vorlesungen oft hitzige Debatten geführt, die ich erst in meinem senior year als "nicht die Energie wert" mit zusammengebissenen Zähnen nicht mehr geführt habe. Die Studentinnen im Film halten den Mund, gucken aber auch nicht begeistert...]

Selbst der Privatmensch David ist geprägt von dem, was er an seine Studenten weitergibt, ist fasziniert von der Romantisierung des Bösen, des Brutalen, des Animalischen und hört selbstverständlich nur klassische Musik. Er versucht, in einer Kultur zu leben, die es bei seiner Geburt fast schon nicht mehr gab. Er will der König seines Universums sein, damit er gönnerhaft über Frauen, Kinder und Tiere herrschen kann.

Nachdem ihm seine schwarze Lieblings-Prostituierte den Laufpass gegeben hat, sieht er sich nach Ersatz um. Diesen glaubt er, in der schwarzen Studentin Melanie (Antoinette Engel) gefunden zu haben. Melanie läuft ihm auf dem Uni Campus über den Weg, wo sie - ganz wie in einem viktorianischen Roman - stolpert und hinfällt, woraufhin er ihr galant (und wie auch seine Vorbilder, die fiktiven "Helden", nicht ohne Hintergedanken) auf die Beine hilft.

Melanie fällt auf seine schönen Worte und Versprechen herein. Sie hat anscheinend auch einen Hang dazu, mit dem Feuer zu spielen und die Regeln zu übertreten. Doch als David später ihr NEIN nicht akzeptiert und sie überlegt, wie sich verhalten, wird ihr endlich klar, weshalb sexuelle Beziehungen zwischen Professoren und Studenten [verschiedenerorts generell] untersagt sind [und zwar unabhängig vom Alter der Studenten, denn es geht ja hier um den Punkt der Abhängigkeit/des Machtungleichgewichts und nicht um Minderjährigkeit, z. B. Texas]. Es kommt zu einem Disziplinarverfahren, bei dem weder das Wort sexuelle Belästigung noch Vergewaltigung ausgesprochen wird.

Verständnis für David Luries Taten

In einer Schlüsselszene sehen wir ein Treffen zwischen David und seiner Ex-Frau. Hier wird sehr schön der Konflikt der heterosexuellen Frau aufgezeigt, deren Interessen mit denen des Mannes verbunden sind. Die geschiedene Frau Lurie ist nur allzu bereit, das Opfer zu beschuldigen, die Taten ihres Mannes zu verniedlichen oder gar völlig unter den Teppich zu kehren. Sie interessiert sich gar nicht für die Wahrheit, die ihr David erzählen will. Für sie ist nur wichtig, dass er seinen Job behält, denn sie bekommt schließlich Unterhalt und interessiert sich auch für seinen Pensionsanspruch. Klarer hätte man diesen Interessenkonflikt nicht zeigen können.

Vor dem akademischen Disziplinarausschuss wird David Gelegenheit gegeben, sich zu rechtfertigen. Doch der Akademiker weigert sich, genau wie Meursault in Der Fremde von Existentialist Albert Camus, das übliche verlogene Spiel von Ausreden - Reue - Entschuldigung, aber gefälligst von Herzen! - und dem Klaps auf die Finger mitzuspielen. Er lacht sogar ob der Farce, die das Kommittee zu spielen bereit ist. Therapie? Er sei nicht therapierbar, grinst Lurie fast belustigt. Er sei ein Diener des Eros, das ist Luries einzige Erklärung. Auch den Vorschlag, mit einem Kirchenvertreter zu sprechen lehnt er, genau wie Meursault, kategorisch ab. Meursault bekam die Todesstrafe, David Lurie wird gnädig nahegelegt, die Kündigung einzureichen. Die Szene ist eine Kritik an der schändlichen und durchsichtigen Praxis solcher Gremien - und ein absolut brillanter Riff an/auf Der Fremde, einfach toll. [Aus irgendeinem Grund fällt mir hier ein ähnlich genialer Film ein - Der Vorleser. Mit der darin beschriebenen Beziehung tun sich auch die mainstream Kritiker weniger schwer als mit der Natur von Luries Fehltritt, der in unserer Kultur [immer noch] gerne eher verniedlicht und nicht ernstgenommen wird.]

Durch seine Verweigerung zeigt uns Lurie, dass er kein hoffnungsloser Fall ist. Er mag nicht mit der Kündigung gerechnet haben, aber ist bereit, mit den Konsequenzen zu leben. Der Fluch der Intelligenz ist, dass der Selbstbetrug Grenzen kennt. Arroganz führt manchmal zu sowas wie Integrität. Doch soll das erst der Anfang eines längeren Lernprozesses sein...

Lurie fährt zu seiner erwachsenen Tochter Lucy (Jessica Haines) auf's Land, um dort in Ruhe eine Oper über Lord Byron in Italien zu schreiben. Lucy schaut fast angewidert auf ein Buch von Byron, aber legt sich nicht mit ihrem Vater an. Später will der wissen, was sie liest und verzieht beim Anblick des Romans Edwin Drood von Charles Dickens das Gesicht. (NB: In diesem letzten Roman von Charles Dickens verliebt sich ein Dirigent in seine Schülerin, die bereits verlobt ist und der Verlobte verschwindet später spurlos... Link zum Roman: Das Geheimnis des Edwin Drood)

Wir erinnern uns an den Interessenkonflikt der heterosexuellen Frau? Lucy ist lesbisch und lebt, wie David bemerkt, "weit weg". Lucy lebt seit dem Scheitern ihrer Liebesbeziehung alleine mit ihren Hunden, züchtet Blumen und Gemüse. Einzig der Schwarze Petrus (Eriq Ebouaney, Transporter 3, demnächst: Durst) geht in Lucys Haus ein und aus und hilft ihr mit den Hunden, was David eher besorgt als erleichtert.

Der Mann und sein Dilemma, die Frau und der liebe Frieden

Kurz darauf werden David und Lucy von drei Schwarzen überfallen - David kommt mit einem blauen Auge und ein paar Verbrennungen davon, Lucy wird vergewaltigt. Für David ist das eine ganz neue Erfahrung: Machtlosigkeit. Er ist wütend und besorgt, will mit Lucy sofort umziehen. Doch diese macht ihm klar, dass sie in dieser von Männern geschaffenen und von Männern geprägten Welt leben muss, egal wo das ist, und dass sie keine Lust hat, sich wieder verjagen zu lassen. Dass Vergewaltigungsprozesse nach wie vor auch für das Opfer unangenehm sind und in lächerlich geringen Strafen (vor allem verglichen mit Delikten, die mit Geld zu tun haben) resultieren, schwang in einer früheren Szene schon mit.

David kann das Verhalten seiner Tochter nicht verstehen. Sie weiß, wie es sich anfühlt, unterdrückt zu werden. Nicht nur als Frau, sondern besonders auch als lesbische Frau hat sie bestimmt genug Erfahrung mit Diskriminierung gemacht und kann deshalb ein Stück weit auch die Wut der Täter nachvollziehen.

Wenn aus Opfern später selbst Täter werden, ist das keine einfache Situation, besonders wenn die Täter von damals ungeschoren davonkamen. Da gibt es den bitteren Nachgeschmack, das Gefühl, ein neues Unrecht begangen zu haben, wenn man den "Opfer/Täter" bestraft. Vielleicht sind deshalb die Strafen für Gewalttäter oft so erschreckend milde.

Die frisch befreiten Männer in Schande haben eben auch die Möglichkeit, ihrer Wut (und Rachsucht) durch die Gewalttat der Vergewaltigung Ausdruck zu verleihen. In der Anfangszeit der "Emanzipationswelle" und teils heute noch wird über "wütende" oder "emotionale" Frauen die Nase gerümpft, die der eine oder andere ältere und/oder unbelehrbare Schreiberling sogar heute noch (ohne Korrektur am nächsten Tag) als "hysterisch" beschreiben darf. (Wieso das Wort nicht akzeptabel und schon gar nicht druckfähig ist/sein sollte? siehe hier.)

Die erfahrene Lucy ist traurig, aber sie bleibt standhaft. So etwas kommt von so etwas, das ist nichts Neues, damit muss man leben, so man keinen Krieg haben will. David ist angefressen und schnappt nach Luft ob des Unrechts. Er liebäugelt damit, den einfachsten Weg zu gehen und den Vorfall als Rechtfertigung für seinen Rassismus zu nehmen, doch Lucy lässt das nicht zu. Petrus erklärt David, dass Lucy sehr weitsichtig ist und nicht in der Vergangenheit festhängt. Nur mit dem Blick nach vorn kann Frieden herrschen. Davids Fluchtversuche in die Welt Lord Byrons werden immer wieder durch Lärm unterbrochen, der von Errungenschaften der Neuzeit kommt.

Es ist die Figur der Lucy, die ihrem intelligenten und lernbereiten Vater durch den schmerzlichen Prozess der Selbsterkenntnis zur Seite steht, ihm Anregungen gibt und durch ihre Taten als gutes Vorbild fungiert. Wir wollen uns jetzt nicht dazu äußern, dass die Opfer wieder einmal die Täter durch die Dunkelheit zum Licht führen müssen. Eine altbekannte Tatsache und etwas, das einen ärgern kann. Ein trauriger Moment, wenn selbst Lucy in Verhandlungen treten und sich arrangieren muss....

David Lurie zieht anfänglich immer wieder die Es-liegt-eben-in-der-Natur-des-Mannes-Karte. Den Stand seiner Entwicklung sehen wir an seinem Verhältnis zu den Hunden, die in einem Tierheim auf den Tod warten. Im Laufe des Films ändert sich Davids Standpunkt langsam, bis er endlich in einer traurigen Szene seiner Ausrede den Todesstoß versetzt und sie zu Grabe trägt. Davor wird sein Fortschritt auch kurz in einer Szene mit einer schwarzen Prostitutierten gezeigt. Dieses Mal gibt's keine klassische Musik, kein bequemes Bett, keine Pseudo-Romantik und keinen Geschlechtsverkehr.

Die letzte Einstellung zeigt das alte und reparaturbedürftige Haus von Lucy zusammen mit dem neu gebauten Haus von Petrus. Im Raum hängen Fragen. Frieden? Fauler Kompromiss? Leuchtendes Beispiel? Und auch: David Lurie hat eine Entwicklung durchgemacht und kämpft sich durch das bekannte "Dilemma des weißen Mannes, der sich in der Gegenwart verloren und nutzlos fühlt". Was wird aus Petrus und was aus seinem Schwager werden? Andere Farbe, gleicher Machismo, der wieder Jahrzehnte der Geduld und zusammengebissenen Zähne in Anspruch nehmen wird?

Ähnlich interessant wie Schande ist auch die vor ein paar Jahren erschienene spannende Literaturadaption In den Süden (OT: Vers le Sud) mit Charlotte Rampling als Sextouristin. Auch dort werden Parallelen gezogen zwischen Frauen (hier: Frauen weit jenseits 40, die aufgrund ihres Alters für die Männerwelt ihrer Kultur uninteressant bzw. völlig unsichtbar geworden sind) und dunkelhäutigen Männern. Altersdiskriminierung : Rassismus. (zur DVD: In den Süden)

*) Coetzee wurde in Südafrika geboren, wanderte allerdings nach Protesten wegen Schande nach Australien aus und ist jetzt australischer Staatsbürger. (Der ebenfalls in Südafrika geborene Neill Blomkamp, Autor und Regisseur von District 9, hält sich heute auch nicht mehr dort auf, sondern lebt in Kanada.)

Schande -- Genre: Drama -- deutscher Kinostart: 17.09.09 -- Länge: 120 Minuten -- FSK: nicht bewertet
Drehbuch: Anna Maria Monticelli, basierend auf dem Roman von J.M. Coetzee
Regie: Steve Jacobs

Schande Trailer deutsch



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