03.04.2011

Winter's Bone Kritik + Trailer deutsch

Man könnte fast meinen, wir wären schon in der Karwoche, denn es halten gleich zwei leidende junge Märtyrerinnen Einzug in die Kinos: Baby Doll in Sucker Punch und Ree Dolly (Jennifer Lawrence) in  der Literaturadaption Winter's Bone, die auf dem Roman von Daniel Woodrell basiert.  (Link zum Buch: Winters Knochen: Roman)

Beide Protagonistinnen leiden und kämpfen, stecken Ungerechtigkeiten weg und machen sich für andere Menschen stark. Einer der Unterschiede zwischen Sucker Punch und Winter's Bone liegt darin, dass Baby Doll ein "böses Mädchen" ist, das auch noch andere Mädchen anstiftet und sich mit ihnen verbündet - und Ree Dolly ist ein "braves Mädchen".  Frei nach dem Spruch "gute Mädchen kommen in den Himmel, böse überall hin" können wir Ree nur wünschen, dass es einen solchen Himmel gibt. Denn ohne ihn bekommt sie als Belohnung lediglich... ein gutes Gewissen. Da bleibt bei uns ein bitterer Nachgeschmack.

Armut. Drogen. Gewalt. Verrohung. Kinder, die um ihr Überleben kämpfen. Aus diesen Wörtern können wir uns sofort eine Geschichte zusammenbasteln, die vermutlich in South Los Angeles oder der Bronx spielt wie gefühlte Millionen vor ihr. Vermutlich gibt es da auch noch Gangs und Prostitution und nicht zu vergessen - einen Ehrenkodex. Die Community hält zusammen gegen jedweden "Feind", vom einfachen Außenseiter bis hin zur Sozialarbeiterin der Fürsorge, die im Ghetto bzw. der Hood nicht herumzuschnüffeln hat. Junge Frauen kümmern sich um ihre kleinen Geschwister, weil die Eltern ständig zugedröhnt, weggelaufen oder im Knast sind und vernachlässigen darüber ihre eigene Schulbildung. Haben wir schon -zig Mal gesehen.

Armut. Drogen. Gewalt. Verrohung. Kinder, die um ihr Überleben kämpfen. Ozarks. White Trash. "Pack schlägt sich, Pack verträgt sich". Ehrenkodex. Eine psychisch kranke Mutter (vermutlich durch ihren Konsum von Crystal Meth oder gar die Medikamente, die sie sich gibt), die sich nicht um ihre drei Kinder kümmern kann oder will. Ein Crystal Meth kochender Vater, der wieder einmal geschnappt wurde und auf Kaution freikam - und dann verschwand, vielleicht um den drohenden 10 Jahren Knast zu entkommen. (Auch Obama kämpft immer noch den toughen, teuren Krieg gegen Drogen, obwohl der sich genausowenig rechtfertigen lässt wie der andere).  Die 17 jährige Ree Dolly, die sich nun selbstredend um ihre beiden kleinen Geschwister samt der Mutter kümmert. Das ist Winter's Bone.

Halt, wir brauchen noch einen Konflikt. Der Vater hat für seine Kaution das Familienanwesen verpfändet. Ree muss ihn innerhalb einer Woche auftreiben, tot oder lebendig, um das Haus nicht zu verlieren. Doch als sie in der Nachbarschaft herumfragt, reagieren die Menschen mit Ablehnung. Schließlich hat hier jeder Dreck am Stecken und eine Methküche auf dem Grundstück, da sind Fragen nicht willkommen. Ree muss am eigenen Leib erfahren, dass die männlichen Hillbillies zwar ihrem Ehrenkodex gemäß keine Frauen verprügeln, aber die prügelnden Frauen den Männern in nichts nachstehen. Erst als Ree ihre Verschwiegenheit zusichert und auch noch verkündet, dass sie die familiären Verpflichtungen ihres Vaters übernehmen wird (also ungefähr für die nächsten 10 Jahre oder so dort in diesem Morast festhängen und versauern wird), erhält sie die übliche Unterstützung der Gemeinschaft. Braves Mädchen! Leiden verbindet. Das Leben ist schwer, ist ein harter Kampf. Willkommen im Club. Ihr Onkel Teardrop (John Hawkes, Buffalo '44 - Das Wunder von St. Anna) legt auch noch gütigst ein gutes Wort für sie ein und verspricht, sie im Auge zu behalten.

Der Pferdefuß an der Geschichte von Winter's Bone ist, dass Ree das Auffinden ihres Vaters nur bedingt weiterbringen würde. Es sichert ihr das Dach über dem Kopf, mehr aber auch nicht. Von daher werden schon ein paar Zuschauer nicht so in die Suche investiert sein, wie die Filmemacher es erwarten.

Ein Hoffnungsschimmer: Die Army und ihre Bonuszahlung von $ 40.000, wenn man sich für 5 Jahre verpflichtet. Ree ist voll dafür und will möglichst gleich den Vertrag unterschreiben und das Geld kassieren. Aber sie ist eben noch minderjährig. Als der Rekrutierer von ihrer persönlichen Situation hört, reagiert er, wie die guten Männer eben reagieren: Sie sagen der Frau, dass sie an den heimischen Herd gehört und dort "ihre" Pflichten zu erfüllen hat, weil sich das eben so gehört. Weil es ihre moralische Pflicht ist, es ist "richtig".  Diese häusliche Aufgabe fordert "Rückgrat und Courage", erklärt der Soldat, und das sind natürlich hochehrenwerte Dinge, von denen Soldaten Ahnung haben. Ehre steht hoch im Kurs. Dafür stirbt man sogar. Ehre und Moral sind auch zwei Argumente, mit denen man Frauen gerne (und immer noch oft erfolgreich) kommt, wenn man sie manipulieren will.

Wäre Ree ein Mann, was hätte der Rekrutierer wohl dann gesagt? Bringen sie die Mutter in die Klapse und die Kids zu Verwandten und melden sie sich bei uns, sobald sie 18 sind, damit sie mit ihrem Bonus die Leute (höchstwahrscheinlich unterbezahlte Frauen) bezahlen können, die sich um ihre Family kümmern? Oft sieht es doch so aus, als hätten Männer generell eine Bezahlpflicht, Frauen dagegen generell eine 24/7 Kümmer-und-Sorge-Pflicht.

Die Frage lautet nicht "tut sie das Richtige"? Natürlich tut sie das Richtige - für fast alle anderen Menschen ist es das Richtige. Für Onkel Teardrop, für ihre ganze bucklige Verwandtschaft und für ihre Mutter. Für ihre kleinen Geschwister? Wohl kaum. Ree bringt ihnen bei, wie man in den Ozarks überlebt. Also das, was man ihr beigebracht hat. Sie kann ihnen nicht zeigen, wie man lebt. Davon hat sie selbst keine Ahnung. Die Frage müsste lauten "trifft sie die richtige Entscheidung für sich selbst"? Oder alternativ: Was sind ihre Alternativen? Besonders bei der letzten Szene mit Teardrop hätte ich mich glatt übergeben können.

Diese letzte Szene verdeutlicht eines sehr gut: Protagonistin Ree ist ein Opfer, das sich nicht selbst retten kann, das die Lösung nicht sieht. Sie ist keine Heldin. Sie ist keine starke Frau. Sie ist ein Opfer, gefangen in ihrer Gemeinde, eingekerkert durch den Blödsinn, den man ihr seit ihrer Geburt als Weisheit und Wahrheit verkauft hat.  Sie hat keinen Traum, keine Zukunftsperspektive. Winter's Bone gibt uns keine Hoffnung. Es lässt noch nicht einmal die Wahrheit zu, dass man sich mit Geld Freiheit kaufen kann, sich Unabhängigkeit kaufen kann, dass Geld eine 1a Fluchthilfe ist - und dass Ree wenigstens das begriffen hat. Nix. Winter's Bone spekuliert auf Himmel und die Geschwisterliebe als Belohnung. Wir Frauen sind ja genügsam. Unser eigenes Leben und Lebensglück hat keine Priorität, wir leben für das Gemeinwohl. Damit wird man zum "guten Mädchen". Ree sieht keine dringliche Notwendigkeit, aus ihrer Situation zu flüchten, ob nun mit oder ohne Geschwister. Ein NEIN vom Rekrutierer und schon gehen ihr die Ideen aus. Das ist höchst frustrierend, wird aber natürlich als "realistisch" verkauft. Entweder weil Frauen eben so beschränkt sind oder weil Ree an erlernter Hilflosigkeit leidet. Vielleicht verirrt sich ja ein netter Prinz in die Berge und alles wird gut?

Winter's Bone ist eine Tour de Force, die uns tatsächlich in die Ozarks führt, uns authentische Schauplätze und in kleinen Nebenrollen auch tatsächliche Bewohner der Gegend zeigt. Die Mitwirkung der Menschen wird - genau wie damals bei Danny Boyles Slumdog Millionär - lediglich uns zugute kommen, aber der verarmten Region selbst eher wenig nützen. (Wir wollen Granik nicht unerstellen, dass sie, falls ihr Film über $ 370 Mios. einspielen würde, sich genauso unglaublich skandalös verhalten würde wie der Engländer Danny Boyle, in dem anscheinend immer noch ein Kolonialherr steckt.)

Die Mitglieder der Mittel- bzw. Oberschicht, die Filmpreise vergeben (z. B.bei Robert Redfords Sundance Filmfestival), waren begeistert von diesem Drama über die Unterschicht. Das ist auch einfach, denn dieser Ausdruck politischer Korrektheit verpflichtet sie - genausowenig wie die Filmemacher oder letztlich die geneigten Zuschauer - zu absolut nichts. Handlungsbedarf mag bestehen, aber keine Handlungsverpflichtung. Das ist das schöne an Preisen. Auch der Friedensnobelpreis funktioniert so.

Denn Winter's Bone ist, so beeilen sich einige Kritiker zu versichern, eben nur ein Film und keine Studie. Ein schön gemachter Film mit einer fabelhaften Hauptdarstellerin, ein "wichtiger" Film. Wenn wir allerdings Filme wie Winter's Bone wirklich nur als Unterhaltung und Gesprächsstofflieferanten für's Dinner im schnieken Restaurant sehen, dann fehlt mir jegliches Argument für ihre Daseinsberechtigung. Außer vielleicht das folgende:

Wem noch nicht klar ist, dass Armut und ihre katastrophalen Auswirkungen keine Rassenunterschiede kennt und auch nicht zwischen Land und Stadt unterscheidet, dass sie zu Drogensucht, Kriminalität und Gewalt führen kann, dass sie besonders für Kinder aber auch die Gesellschaft per se schädlich ist, für den ist Winter's Bone Pflicht. Dieses Wissen sollte einfach jeder Mensch besitzen.

Winter's Bone -- Genre: Drama -- deutscher Kinostart: 31.03.11 -- Länge: 103 Minuten -- FSK: ab 12 Jahren
Drehbuch: Anne Roselllini und Debra Granik, basierend auf einem Roman von Daniel Woodrell
Regie: Debra Granik

Winter's Bone Trailer deutsch

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